Die Geschichten unseres täglichen Lebens entstehen aus einer Kombination aus freiem Willen, Schicksal und den erdrückenden Realitäten des Kapitalismus. Aber wie entsteht ein auf Entscheidungen basierendes, narratives Abenteuer wie New Tales from the Borderlands? Das Entwicklerteam von Gearbox hat viel Liebe und Arbeit in die Geschichte von Anu, Fran und Octavio gesteckt. Darüber, wie die drei sich zusammentun, um das Chaos zu ihrem Geschäft zu machen. Aber als Spieler*in hast du die Kontrolle darüber, wie die Geschichte erzählt wird.
Wie entscheiden die Autor*innen unserer Geschichte also, wo sie all diese unterhaltsamen, komischen oder herzzerreißenden Entscheidungen einbauen? Wie wirken sich diese Entscheidungen auf die endgültige Richtung deiner Geschichte aus? Und wann ist eiskaltes Schweigen angebracht?
Lin Joyce ist Head of Writing bei Gearbox Software und hat – vermutlich – einen Doktor in Narrative System Design. Sie hat die Antworten auf diese und viele weitere Fragen. In diesem ersten New Tales Entwicklertagebuch gewährt Lin einen Blick hinter die Kulissen und erzählt, wie diese außergewöhnliche Geschichte entstanden ist.
EINEN ERZÄHLERISCHEN KURS EINSCHLAGEN
Auf den Punkt gebracht wird die Geschichte von New Tales von zwei Kernelementen bestimmt: dem narrativen Design und dem Drehbuch.
Laut Lin wirkt sich das narrative Design darauf aus, wie die Spieler*innen im Spiel mit der Geschichte interagieren und wie viel Handlungsspielraum sie haben. Das narrative Design ist der Startpunkt. Wenn dann alles festgelegt ist, kann das Drehbuch geschrieben werden.
„Als Leiterin des Ganzen bin ich sowohl für das narrative Design als auch für das Drehbuch verantwortlich. In jeder Szene fragen wir uns: ‚Welche Möglichkeiten haben die Spieler*innen, diesen Moment zu beeinflussen? Welche Mechanismen könnten das beeinflussen oder die Interaktion sinnvoller machen?‘ Aber auch: ‚Welche Geschichte erzählen wir, und was sagen die Charaktere?‘ Es gab zwar verschiedene Autor*innen, die zum Skript beitrugen und die Geschichte zum Leben erweckten, aber es war vor allem meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass wir eine kohärente Vision bewahren und dass die allgemeinen Anforderungen an die Geschichte erfüllt wurden.“
Wie um alles in der Welt wird das Drehbuch von einem leeren Blatt Papier zu dem filmischen Nervenkitzel, der sich zwischen unseren drei Protagonisten und jedem (oder allem), mit dem sie in Kontakt kommen, entfaltet?
„Als wir den Entwurf durchgingen und die Geschichte entwarfen, bestand ein großer Teil des kreativen Prozesses darin, die Charaktere sagen zu lassen, wohin sie gehen wollen und wo sich der Weg der Geschichte teilen könnte“, sagt Lin. „In der Skizze behalten wir den roten Faden bei, an den sich das Spiel insgesamt hält, aber wenn es an das Schreiben geht, geben wir uns dem kreativen Prozess hin und fragen uns: ‚Was würde ich in diesem Szenario tun?‘
„Das Schöne an einer interaktiven Erzählung ist, dass ich die Frage auf beide Arten beantworten kann oder auf alle vier Arten oder auf beliebig viele Arten, und dann sehe ich, wohin sie mich führt. Jedes Mal, wenn wir uns fragen, ‚Was würde Octavio tun?‘, lautet die Antwort: ‚Entscheide dich nicht, lass es einfach laufen, spiel damit.‘ Auf diese Weise ist es wirklich befreiend, als Autor die Möglichkeit zu haben, alle möglichen Dinge zu untersuchen, die eine Figur tun könnte, und dabei der Figur selbst treu zu bleiben. An manchen Tagen wähle ich das Chaos. An anderen Tagen tue ich das nicht. Aber beides bin immer noch ich.
Natürlich wird jede Geschichte, die etwas taugt, während des kreativen Prozesses immer wieder überarbeitet.
„Bei einem storygesteuerten Spiel ist die Geschichte die treibende Kraft. Also haben wir dafür gesorgt, dass sie bis zum Ende der Entwicklung flexibel bleibt“, sagt Lin. „Wann immer wir den ersten Entwurf einer Episode geschrieben hatten, machten wir daraus eine spielbare Version des Drehbuchs mit Text-to-Speech-Programmen, die die Zeilen der einzelnen Charaktere vorlesen. Dann haben wir alle Teamleiter zu einer Leseprobe eingeladen. Nicht nur das Erzählteam, sondern auch das Designteam, die Zeichner, die Kameraleute, die Tontechniker, einfach alle!“
„Es hat Spaß gemacht, wenn die anderen ihre Entscheidungswünsche geäußert haben, aber es gab auch kritisches Feedback. Wenn zum Beispiel niemand eine Option wählte, dachten wir: ‚Vielleicht müssen wir das umschreiben; niemand schien von dieser Option begeistert zu sein.‘“
MIT DEINEN ENTSCHEIDUNGEN LEBEN
Wenn du das ursprüngliche Tales from the Borderlands oder ähnliche Spiele gespielt hast, kennst du den Anblick von „[Diese Figur] wird sich daran erinnern“, der auf dem Bildschirm erscheint, wenn du eine besonders wichtige Entscheidung getroffen hast. In New Tales from the Borderlands gibt es solche Hinweise jedoch nicht. Die Entwickler haben sich bewusst dafür entschieden, die Auswirkungen deiner Entscheidungen im Dunkeln zu lassen.
„Wenn ein Spiel dir über die Benutzeroberfläche sagt, was es für wichtig hält, dann signalisiert es auch, was nicht wichtig ist“, sagt Lin. „Das kann leicht das Spielgefühl stören oder die Spieler*innen dazu verleiten, das System auszutricksen.“
Die Versuchung, eine bestimmte Wortwahl in einem Gespräch oder eine verzweifelte Entscheidung, die du getroffen hast, schnell wieder rückgängig zu machen, kann dich aus der Handlung und aus dem Moment reißen.
„Wenn ich diese Benachrichtigung sehe, denke ich vielleicht: ‚Wenn diese Figur sich das merkt und ich das nicht will, weiß ich jetzt, dass ich das Spiel schließen, neu laden und es noch einmal tun muss‘“, sagt Lin.
Laut Lin treten die gleichen Fallstricke auf, wenn Spiele die Entscheidungen, die du triffst, mit binären moralischen Ausrichtungen versehen.
„Ich beginne ein Rollenspiel vielleicht mit dem Gedanken: ‚Ich werde Entscheidungen treffen, die zu mir passen.‘ Aber sobald das Spiel anfängt, mir zu sagen, dass etwas eine „schlechte“ Entscheidung war, denke ich: ‚Verurteile mich nicht! Sag mir nicht, dass ich schlecht bin!‘“ Lin lacht. „Du fängst an, diese moralische Konversation mit dem Spielsystem zu führen anstatt mit der Geschichte. Ich hätte vielleicht mehr über mich selbst gelernt, wenn das Spiel sich nicht auf diese Weise eingemischt hätte.
Wir wollen, dass die Leute, die New Tales spielen, denken: ‚Ja, das habe ich gewählt. Diese Geschichte entspricht den Entscheidungen, die ich getroffen habe.‘ Weil es kein „falsches“ Ende gibt, ist jeder Endpunkt ein Denkmal der Reise mit Daseinsberechtigung.“
Die Ungewissheit über die Auswirkungen jeder Entscheidung fördert nicht nur das wiederholte Spielen, sondern auch das Gespräch unter den Spieler*innen.
„Weil wir nicht sofort sagen, wo genau die Tracking-Punkte sind, gibt es viel zu diskutieren und zu theoretisieren“, sagt Lin. „Wir wollen, dass die Leute spielen und mit dem Spiel und der Geschichte experimentieren, um ein bisschen mehr zu lernen. Das Entfernen dieser Anzeige war nur eine der Möglichkeiten, das zu erreichen.“
SCHWEIGEN KANN GOLD SEIN
Auch wenn es nicht immer eine Option ist, gibt es bei vielen Gesprächen in New Tales die Möglichkeit, einfach nichts zu sagen und die Stille sprechen zu lassen.
„Schweigen kann eine völlig legitime Antwort auf etwas sein. Entweder weißt du die Antwort nicht oder du willst jemandem signalisieren, dass er dich das vielleicht nicht fragen sollte, richtig?“, sagt Lin. „Manchmal sagt Schweigen mehr aus als Worte, aber das haben wir von Fall zu Fall entschieden. Ist Schweigen hier angebracht? Und wenn nicht, was dann? Wenn ich spiele, wähle ich nicht oft Stille in narrativen Spielen, aber das Schreiben für die Stille macht oft am meisten Spaß! Du musst die Stille jedes Mal, wenn sie auftaucht, bedeutungsvoll und eindrucksvoll machen. Allen, die sich nie für die Stille entscheiden, möchte ich sagen, dass wir in den stummen Optionen ein paar ziemlich lustige Highlights versteckt haben.“
Ein beunruhigtes Heben der Augenbrauen oder ein gleichgültiges Achselzucken kann schon alles sagen, also versuche, diese Pausen nicht zu übersehen. Und wenn du keine Antwort auswählst – vielleicht, weil du unentschlossen oder überfordert warst, bevor die Zeit ablief – wirst du immer automatisch schweigen, wenn es eine der angebotenen Optionen ist.
„Bei unseren Tests haben wir das Spiel selbst spielen lassen“, erklärt Lin. „Wir mussten sicherstellen, dass die Geschichte auch dann stimmig erzählt wird, wenn jemand, der das Spiel spielt, nicht mitredet. Es macht Spaß, sich zurückzulehnen und zuzusehen, wie das Spiel läuft. Wir wollen nicht, dass New Tales ein reines Filmerlebnis ist. Es soll ein Spiel sein, aber wir mussten auch das Szenario testen, dass jemand so passiv wie möglich sein möchte.“
Wenn du dir in einem narrativen Spiel eine Weile Zeit nimmst, um über die perfekte Antwort nachzudenken, lässt du die andere Partei eigentlich hängen. Aber es lohnt sich, ein paar peinliche Pausen einzulegen, um die völlig nebensächlichen Dialogzeilen zu hören, die auftauchen, wenn jemand geduldig darauf wartet, dass du dich einbringst.
„Es ist eine Art seltsamer Tanz“, lacht Lin. „Diese Dinge passieren in natürlichen Gesprächen, aber vielleicht nicht so häufig, wie wir sie einbauen müssen.
Wir haben versucht, sie als Humorelement zu nutzen. Wenn du auf eine Taste tippst, fängst du an zu antworten. Also können diese Pausenfüller deines Gegenübers keine wichtigen Informationen enthalten. Ob du sie nun hörst oder nicht, die Geschichte geht einfach weiter.
Wir hatten oft Spaß daran, uns zu überlegen: ‚Wie kann ich das unterhaltsam machen?‘, ‚Was ist der beste Witz, den wir hier einbauen können?‘ und ‚Wie können wir der Figur eine Dimension verleihen, während sie im Leerlauf ist?‘“
Genauso wie Untätigkeit in Gesprächen eine bewusste Entscheidung sein kann, wirst du auch dazu ermutigt, zu sehen, was passiert, wenn du ein Quick Time Event (oder QTE) auslässt. In einer Situation, in der es um Leben und Tod geht, wird es wahrscheinlich zu einem tödlichen Game Over kommen, wenn du die QTE-Eingabeaufforderung verpatzt. Aber es gibt auch Momente, in denen es dir überlassen bleibt, ob du absichtlich ein QTE verpatzt.
„Es gibt Soft Fails, du musst also nicht jeden QTE schlagen und solltest es vielleicht sogar nicht tun“, sagt Lin. „Wir wollten, dass du denkst: ‚Ist es die richtige Entscheidung, das zu tun?‘ Oft lässt das Spiel beide Szenarien zu. Scheitern ist also oft eine Option, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führt.“
Du kannst in den Menüoptionen auch einstellen, dass du QTEs automatisch überstehst, also mach dir keine Sorgen, dass du in Panik nach dem Controller greifen musst.
Wenn New Tales from the Borderlands am 21. Oktober auf den Markt kommt, liegt es an dir, wie sich deine Geschichte entwickelt und wie oft Schweigen und entschlossenes Versagen eine Rolle spielen. Bis dahin kannst du dich auf weitere Entwicklertagebuch-Artikel über die Entstehung von New Tales freuen!